Schloss Erolzheim brennt

der 13. September 1945
von Max Engelhardt von Kienlin

Der 2. Weltkrieg war vorüber. Die Opfer waren groß gewesen. Ich hatte 1940 als Fünfjähriger meinen Vater durch Flugzeugabsturz verloren. Auch einer seiner Brüder war gefallen. Die Heimat war uns erhalten geblieben. Unser Schloss war in tadellosem Zustand, als am 26. April 1945 die amerikanischen Panzer durch Erolzheim rollten.
Verteidigung war nicht mehr vorgesehen, seit Nächte zuvor die Illerbrücken gesprengt worden waren.
Die Amerikaner kamen aufs Schloss und verlangten kurzfristig den Auszug unserer vielköpfigen Familie, um Quartier- und Repräsentationsräume zu schaffen.
Dafür schien ihnen der burgartige Charakter mit Hof und die vielen, teils auf’ s wertvollste eingerichteten weiten Räumlichkeiten, aus denen man einen herrlichen Weitblick über das Illertal hatte, bestens geeignet.
Nun war aber unser „Rausschmiss“ gar nicht so einfach. Die Sieger wollten eher wie „Befreier“ aussehen und vermieden nach Möglichkeit allzu radikale Eingriffe.
Im März waren viele Verwandte aus dem Osten zu uns geflüchtet - meist mit nur wenig mühsam geretteten Dingen – so dass die Großfamilie auf etwa 30 Personen angewachsen war, dabei 12 Kinder unter 11 Jahren. Dazu kamen noch die treuen Angestellten.
Im Kloster Bonladen fand der Amerikanische Major ein größeres Haus für unseren Exil-Aufenthalt. Nur das Notwendigste an Mobiliar durfte neben den Persönlichen Sachen mitgenommen werden. In großer Eile und mühevoll wurde unser Umzug durchgeführt und die Amerikaner nahen von unserem Schloss Besitz.
Sie zogen ein in diese stilvoll eingerichteten Salons und Gemächer, an deren seidenen Tapeten wertvolle Bilder hingen; sie aßen auf feinem Porzellan unterprächtigen Kronleuchtern, marschierten über edle Parketthölzer und zarte Teppiche und legten sich in die Beten früherer Jahrhunderte. Uniformen hingen nun an den Renaissance-schränken.
Die Bibliothek war besonders eindrucksvoll. Sie erinnerte an den Sitzungsraum einer barocken Abtei mit ihren alten Schnitzereien im Relief über das Leben Jesu auf den Schranktüren.
Die weiträumige Halle, ein wenig düster wegen der Tiefe der Fensternischen, mit Sandsteinboden und offenem Kamin; das Jagdzimmer, das Billardzimmer, der grüne Salon, der rote und blaue Salon, die Turmzimmerchen, das Schlafgemach meiner Großeltern mit Baldachin und Damast Vorhängen, die Vielzahl zart eingelegter kleiner und großer Möbel, welche die Jahrhunderte hinterlassen hatten, dies alles ist mir noch in deutlicher Erinnerung.
Mein Großvater Albert war als Botschafter der Monarchie an vielen Orten der Welt gewesen und hatte die Einrichtung des Schlosses auch mit prunkvollen Accessoires aus Kairo und Konstantinopel bereichert.
Wegen des Bombenkrieges war die Kostüm- und Waffenausstattung des Stuttgarter Stadttheaters zur Sicherung nach Schloss Erolzheim evakuiert worden. Einige Räume waren deshalb angefüllt mit Ritterrüstungen, mit Schildern und Schwerter, Gewehren und Hellebarden, Fahnen und Degen, Gewändern für Könige und Vasallen. Man konnte für ein Großtheater vom Kreuzzug bis Wallensteins Lager das ganze Ensemble ausrüsten.
Nachdem im Juni die Zonengrenzen festgelegt worden waren, gingen die Amerikaner über die lller und die Franzosen wurden unsere Besatzung. Sie übernahmen auch das Iller und wir blieben in der Verbannung.
Und so wohnten wir in einem quadratischen, grauen Haus am Fuße des Franziskanerinnenklosters in Bonladen, 3 km vom Schloss entfernt.
Täglich radelten einige Familienmitglieder zu unserer Garten- und Landwirtschaft in Erolzheim, um Milch, Mehl, Gemüse, Obst und Kartoffeln für unsere große Küche vorzubereiten.
Und ich, damals gerade 11 Jahre, holte abends diese Versorgungsgüter mit einem so genannten StelIwägelchen ab.
Ein Stellwägelchen ist ein kleiner, vierrädriger Pferdekarren, meist einspännig zu fahren, mit hoher Pritsche, Seiteneinfassung und Fahrersitzbrett.
Im Viehstall eines Bonlader Bauern stand ein älterer Rappe, ohne viel Temperament, aber gutmütig. Er gehörte sozusagen mir, Um ihn anzuschirren musste ich in die Tränke steigen, denn das Tier war ohne Geschirr nicht bereit, mir nur um Zentimeter entgegenzukommen.
Mit diesem Gespann fuhr ich werktags also zum Lebensmitteltransport auf' s Schlossgut, hin im Trab, zurück im Schritt.
Sonntags spannte ich gelegentlich eine kleine, elegante Kutsche an für die Kirchfahrt mit meiner Mutter.
Am Morgen des 13. September 45, einem sonnigen Donnerstag wurden wir um halb sieben durch lautes Rufen geweckt.
Meine Mutter sah aus dem Fenster. Im Klosterhof stand aufgeregt und atemlos mit Fahrrad unser Verwalter Denner: „Gnädige Frau," rief er, „seit halb 1 Uhr nachts brennt das Schloss!"
Fieberhafte Aufregung im ganzen Haus. „Max, einspannen!"
Ich rannte los. Unterwegs überlegte ich: Selbstverständlich das Stellwägele; mit ein paar Brettern könnten viele neben- und hintereinander sitzen.
Als ich im Klosterhof vorfuhr, war die Familie bereits mit Fahrrädern oder im Dauerlauf unterwegs. So stand dort mit meiner Schwester Angela noch die Großmutter, ganz in schwarz und mit großem Hut.
Ihr erstes Entsetzen galt meinem Gespann. Sie hatte die bequeme Kutsche erwartet.
Wir halfen ihr auf das Sitzbrett und ich trieb den Rappen zur Eile an. Unterwegs fragte meine Großmutter dauernd, ob man denn etwas sehe vom Schloss, ob Rauch aufsteige, wann endlich das Dach auftauche? In der Aufregung wusste ich nicht mehr zu sagen, von welchem Punkt des Weges aus das Schloss überhaupt gesehen werden konnte.
Bei der Abzweigung Waldenhofen blieben wir stehen. Die Deichsel wich nach rechts, das Pferdchen stand nach links. Der vordere Riemen hatte sich gelöst. Schlampig angespannt.
Die Faulheit des Rössleins verhinderte ein Unglück. Bald fuhren wir weiter. Bei der Fahrt durchs Dorf wurde meine Oma immer blasser. Beim Brechtenbreiter sah man schon offene Hydranten und Tuchzeugschläuche. Schweigend sahen Menschen auf uns.
Entgegen kam uns „le capitaine", höchstrangiger Offizier am Ort und somit Verantwortlicher. Er hatte stets guten Kontakt zu meiner Familie gepflogen.
Nun schritt er allein die Straße herunter, blass und streng, ein Stöckchen in britischer Kolonialmanier unter den Arm geklemmt.
Als er uns sah, hielt er inne, breitete die Arme aus und sagte starr: „Oh, Madame, quel grand malheur!"
Meine Großmutter blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Langsam erhob sie sich, stand balancierend auf dem schmalen Brett. „Ihr Säue!" rief sie ihm auf deutsch entgegen, wandte sich ab und setzte sich wieder.
Wir fuhren zum Schloss. Schon an der Auffahrt wussten wir das Schlimmste. Die Giebel des Hauptschlosses ragten ohne Dach in den Himmel. Viele kleine Rauchsäulen schwelten als Zeugen des Großfeuers, das Stunden gewütet hatte.
Im Hof lagen glimmende und verkohlte Balken, nasse unkenntlich gewordene Gegenstände zwischen Schläuchen und Leitern. Überall rann massenhaft Wasser und Rauch verhüllte in Schwaden große Teile der Gebäude.
Eine Kette von Männern führte über eine ausgezogene Leiter hinauf zum Fenster der Bibliothek. Von dort reichten sie Bücher und Schnitzereien von Hand zu Hand herab. Alles wurde in die Hauskapelle des Seitentraktes gebracht. Einer hielt oben den Wasserstrahl in das immer wieder aufzuckende Feuer.
War das die Feuerwehr? Wo war das von mir erwartete rote Auto mit Silberleiter. Wo die blitzend goldenen Helme?
Mit rußigen Gesichtern und schmutzverkrusteten Uniformen, teils auch in Zivil kämpften sie verbissen gegen Brand und Wasser an, mit einfachen Helmen oder nur Mützen.
Kommandos und Rufe erschollen hin und her.
Einige Männer kannte ich.
Kommandant Josef Veit, Karl Ritter, der Schmied Seitz, Anton Moll, um nur einige zu nennen. Manche waren gerade aus Krieg oder Gefangenschaft heimgekehrt.
 
Ganz oben auf der Leiter stand Fakler' s Sepp mit seiner Sanitätermütze und befolgte beim Abbruch und Heraustransport des Chorgestühls die Anweisungen, die ihm von unten der alte Schreiner Bodenmüller gab.
Die mittleren Räume des Hauptteiles waren in die Halle hineingesackt; eine Folge des Wassergewichtes.
Wie man erfuhr, „durfte" unsere Feuerwehr damals erst um etwa 5 Uhr früh ausrücken. Für die Nächte hatten die Franzosen der deutschen Bevölkerung ein striktes Ausgehverbot verordnet. Dementsprechend gestatteten sie den Zugang generell erst in den frühen Morgenstunden, nachdem das Feuer schon über vier Stunden gewütet hatte.
Während dieser Zeit hatten sie in dilettantischer Weise versucht, dem anschwellenden Brand Herr zu werden.
Am Nachmittag zuvor hatten die Besatzungsoffiziere mit einer Gruppe französischer Knaben, die zu Besuch waren, in Rot an der Rot ein Fest gefeiert.
Auf meiner Nahrungstransportfahrt nach Bonladen war ich gegen Abend den nach Erolzheim zurückkehrenden Militärfahrzeugen begegnet und hatte Mühe gehabt, den allzu lustig hin und her pendelnden LKW' s auszuweichen!
Am Abend sollte dann in der Schlossküche für die jungen Gäste noch groß gekocht werden. Dabei soll Fahrlässigkeit zu einem Kaminbrand geführt haben, welcher sich dann durch unsachgemäße Bekämpfung schließlich zum Großbrand in dem riesigen und holzreichen Dachstuhl entwickeln konnte
Wie konfus die Franzosen waren, wurde auch dadurch offenbar, dass sie erst im letzten Moment noch einen schlafenden Marokkaner retteten, dessen Umgebung schon brannte.
Die Feuersbrunst muss schließlich ungeheuer gewesen sein.
Zwei Klosterfrauen in Bonladen hatten das rote Leuchten hinter dem Kapellenberg gesehen, es aber für ein Nordlicht gehalten und uns deshalb nicht benachrichtigt.
Als also unsere Feuerwehr endlich zu Hilfe kommen durfte, hatte der Brand schon so gewütet, war schon so viel Wasser sinnlos und schädlich in die tiefer liegenden Räume gedrungen, dass eine Rettung des Gebäudes und des Großteils der Einrichtung gar nicht mehr möglich war.
Nur ein weiteres Vordringen der Brände in die Flügel des Schlosses war noch zu verhindern und die gefahr- und mühevolle Rettung weniger Möbel noch möglich.
Meine Verwandten standen mit Tränen in den Augen am Brunnen.
Verglüht und entstellt lagen Rüstungen und Waffen des Stuttgarter Theaters weit verstreut umher und die eifrigen und alle Kraft einsetzenden Männer taten ihr Bestes, um dem in sich zusammenstürzenden Renaissancebau noch einige Gegenstände zu entreißen.
Ein Kind weiß noch wenig von den Konsequenzen größerer Unglücksfälle. Der Verlust des geliebten Teddybären oder des neuen Fahrrades löst oft mehr Kummer aus als folgenschwere Katastrophen. Und so dachte ich damals mit besonderem Bedauern an die umfangreiche Zinnsoldatensammlung meines Großvaters, die mir stets vorenthalten worden war und nun sorgsam verpackt auf dem Speicher gelegen hatte.
Später begegnete ich im Dorf dem alten Kunstschlosser Schaupp. Als er mich sah, steckte er seine Schnupftabaksdose ein, gab mir in feierlichem Ernst die Hand und sagte wörtlich: „Maximilian, dein Erbschloss, was sagst Du dazu?!" Da hätte ich nun etwas sagen sollen, aber mir kamen zum ersten Mal die Tränen über die Zerstörung meiner Heimat.